„Lärm könnte auch den Verlauf von Krankheiten beeinflussen“ – Interview mit Prof. Andreas Seidler

Prof. Andreas Seidler. Quelle: Stephan Wiegand

Prof. Dr. med. Andreas Seidler, Institutsdirektor an der Technischen Universität Dresden, leitet die Studie zu Krankheitsrisiken. Im Interview erzählt der Epidemiologe und Arbeitsmediziner, wie er die Ergebnisse deutet und welche ihn am meisten überrascht haben.


NORAH Wissen: Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?


Prof. Dr. Andreas Seidler:
Mehrere! Ich hatte zum Beispiel nicht erwartet, dass wir beim Herzinfarkt deutliche Unterschiede zwischen der Gesamtgruppe und der Teilgruppe der Verstorbenen finden würden: Das Risiko für einen tödlich verlaufenden Herzinfarkt war bei allen drei Lärmarten höher als das Risiko für einen neu aufgetretenen Herzinfarkt insgesamt. Das führt zu der Frage, ob Verkehrslärm nicht nur Bedeutung für die Krankheitsentstehung hat, sondern auch für den Krankheitsverlauf.

Bemerkenswert finde ich außerdem, dass wir bei der Erkrankung mit den meisten Fällen, der Herzinsuffizienz, für alle drei Lärmarten ähnliche, statistisch signifikante Expositions-Risiko-Beziehungen gefunden haben.

Drittens haben mich die durchgängig höheren Krankheitsrisiken überrascht, die wir für die Innenpegel gefunden haben. Dabei lässt sich der Lärm im Inneren der Wohnungen – sozusagen am Ohr des Schlafenden – nur sehr grob schätzen. Diese Unsicherheiten der Lärmbestimmung müssten eigentlich die Risiken eher verwischen. Dass wir trotzdem erhöhte Risiken gefunden haben, spricht für eine ursächliche Bedeutung des Verkehrslärms.


Sie haben zusätzlich zur Analyse der Krankenkassendaten bei einem Teil der Versicherten eine vertiefende Befragung durchgeführt. Wie tragen die Antworten zu Ihren Ergebnissen bei?


Durch die vertiefende Befragung wollten wir am Beispiel Herzinsuffizienz feststellen, ob sich die Ergebnisse aus den Krankenkassendaten bestätigen oder ob bekannte Risikofaktoren wie der Sozialstatus, Rauchen oder sportliche Aktivitäten die Ergebnisse verzerrt haben. Wenn wir diese so genannten Störfaktoren berücksichtigen, bleiben unsere Ergebnisse aber nahezu unverändert. Das spricht dafür, dass die Ergebnisse, die wir aus den Krankenkassendaten abgeleitet haben, sehr aussagekräftig sind.


Beim Schlaganfall sieht es so aus, als würde das Krankheitsrisiko mit steigendem Fluglärmpegel sinken. Wie erklären Sie sich das?


Man sollte zwei Punkte bedenken: Zum einen sehen wir beim Schlaganfall besonders deutlich, dass auch der Maximalpegel von Bedeutung ist. Wir haben ja die Gruppe von Personen gesondert untersucht, bei denen der Dauerschallpegel unter 40 Dezibel lag, der Maximalschallpegel aber über 50 Dezibel. In dieser Gruppe finden wir statistisch signifikant erhöhte Risiken. Offensichtlich reicht beim Fluglärm der Dauerschallpegel nicht aus, um die Fluglärmwirkung zu beschreiben – wir müssen auch die Maximalschallpegel betrachten.

Ein zweiter Grund könnte sein, dass bei keinem der Versicherten der Fluglärmpegel über 65 Dezibel lag – anders als der Straßen- und Schienenlärmpegel. Und wenn wir den Bereich über 55 Dezibel Dauerschallpegel betrachten, so lag nur bei etwa zwei Prozent der einbezogenen Bevölkerung der Fluglärm-Dauerschallpegel höher. Beim Schienenlärm hingegen lagen sieben Prozent darüber, beim Straßenverkehrslärm 26 Prozent. Wenn höhere Pegelwerte beim Fluglärm also kaum vorkommen oder sogar fehlen, werden die gesamten Verlaufskurven unsicherer.


Bei der Depression steigt das Risiko bei Flug- und Schienenlärm zunächst an, sinkt dann in lauteren Regionen dann aber wieder. Woran könnte das liegen?


Beim Fluglärm und auch beim Schienenlärm waren relativ wenige Personen höheren Lärmpegeln ausgesetzt – viel weniger als beim Straßenlärm. Das macht die Ergebnisse unsicherer. Als Erklärung reicht das aber noch nicht aus. Zukünftige Studien sollten untersuchen, ob Umzüge eine Rolle spielen. Wir haben uns die Depressionsrisiken für diejenigen angeschaut, von denen wir wussten, dass sie in den letzten fünf Jahren nicht umgezogen waren: In dieser Gruppe fanden wir bei der höchsten Fluglärmbelastung statistisch signifikant erhöhte Depressions-Risiken.

Herr Professor Seidler, vielen Dank für das Gespräch!

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