Interview mit der Studienleiterin Prof. Maria Klatte


Welche Ergebnisse der NORAH Kinderstudie haben Sie überrascht?

Es gibt ja bereits eine ganze Reihe an Studien zu diesem Thema. Allerdings waren die Kinder in diesen Studien viel stärker durch Fluglärm belastet – wirklich eklatant stärker. Beispielsweise waren bei einer Münchener Studie die Kinder in der Kontrollgruppe, also die „unbelasteten Kontrollkinder“, genauso stark belastet wie in Frankfurt die Kinder in der am höchsten belasteten Schule. Dennoch konnte man in diesen Studien nur sehr kleine Effekte herausfinden. Selbst das gelang manchmal nicht im Gesamttest, sondern nur für die schwierigsten Aufgaben im Lese-Test.


Mit diesem Vorwissen waren wir beim Start der Studie nicht sicher, ob wir überhaupt eine Wirkung auf die Leseleistung der Kinder finden würden. Natürlich sind die Kinder in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet auch belastet, ich will das nicht verharmlosen. Aber im Vergleich zu früheren Studien ist diese Belastung viel geringer. Dass sich die Effekte trotzdem so deutlich zeigen hatten wir nicht erwartet.

 

Liegt das an Ihrer Methodik? Haben sie so viele Störfaktoren herausgerechnet, dass Sie einen Effekt nachweisen konnten, obwohl die Belastung der Kinder geringer war?

Ja. Wenn so viele Kontrollfaktoren berücksichtigt werden, macht das die Methode strenger, aber möglicherweise auch sensitiver. Anders ausgedrückt: Wenn sehr viel Varianz, die nichts mit dem Fluglärm zu tun hat, aus den Daten herausgezogen wird, so könnten auf den Rest gerade jene Varianzanteile entfallen, die für die Wirkung besonders anfällig sind.

 

Waren die anderen Ergebnisse so, wie sie das erwartet hatten?

Nein, zum Beispiel die erhöhte Häufigkeit von ärztlich diagnostizierten Sprech- und Sprachstörungen und Medikamenteneinnahmen: Das ist ein Ergebnis der Elternbefragung. Wir haben nicht erwartet, dass sich das in dieser Deutlichkeit zeigt. Dem sollte explizit nachgegangen werden, um zu schauen, was genau sich dahinter verbirgt. Wir haben ja nur relativ globale Fragen gestellt und nicht im Einzelnen erfragt, um welche Sprech- oder Sprachstörung es sich handelt oder welche Medikamente die Kinder genau einnehmen. Das ist ja immer eine Gratwanderung: Je genauer wir fragen, desto weniger sind Eltern bereit, alles preiszugeben. Das ist ja auch verständlich.

 

Für wie gravierend halten sie diese Sprech- und Sprachstörungen?

Der Begriff bezeichnet eine ganze Klasse von Auffälligkeiten. Das reicht von relativ einfachen Artikulationsstörungen wie dem Lispeln bis hin zu schwerwiegenden grammatikalischen Störungen. Betroffene Kinder können dann beim Sprechen bestimmte grammatikalische Regeln nicht anwenden oder nach diesen Regeln formulierte Sätze nicht verstehen. Wir wissen nicht genau, welche Art von Störungen den Unterschied in unserer Untersuchung ausgemacht hat. Aber wir haben überprüft, ob sich die Kinder, die nach Angabe ihrer Eltern eine Sprech- oder Sprachstörung hatten, in Bezug auf ihre Leseleistung von den anderen Kindern unterscheiden. Das ist nicht der Fall. Wenn bei den stark von Fluglärm belasteten Kindern gehäuft schwere Sprachentwicklungsstörungen auftreten würden, dann müsste man erwarten, dass diese auch im Lesen schlechter sind. Denn in der Regel wirken sich schwere Sprachstörungen auch negativ auf das Lesen aus. Da das nicht so war, glauben wir nicht, dass es hier um schwerwiegende Störungen geht. Aber wir wissen es nicht genau, und deshalb sollte es Folgeuntersuchungen geben.

 

Wenn Eltern von Ihrer Studie hören und sich fragen, ob es ihrem Kind nun schlechter gehe als Kindern in ruhigen Wohnlagen: Was würden Sie antworten?

Wir haben ja sowohl die Eltern als auch die Kinder über das gesundheitliche und seelische Wohlbefinden der Kinder befragt. Das wurde von beiden Gruppen als sehr positiv dargestellt. Es geht den mit Fluglärm belasteten Kindern also nicht schlecht, sondern nur ein kleines bisschen weniger gut. Andere Faktoren haben sicher einen größeren Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder. Trotzdem ist der Effekt statistisch signifikant. Und wir wissen nicht, wie sich das weiter entwickelt, wenn die Kinder langfristig unter Einfluss von Fluglärm leben und lernen müssen. Um das beantworten zu können, müsste man eine Längsschnittstudie durchführen.

 

 

Sie haben in der 2. Klasse eine Lernverzögerung von bis zu zwei Monaten festgestellt. Bedeutet das, dass Kinder am Flughafen mit geringerer Wahrscheinlichkeit Abitur machen oder insgesamt weniger Chancen haben?

Auch das können wir im Prinzip nicht beantworten, weil wir nicht wissen, wie sich der relativ kleine Unterschied bei den Zweitklässlern langfristig auswirkt. Zunächst muss man sagen, dass der gefundene Effekt auf die Leseleistung klein ist. Da gibt es andere Einflussfaktoren, die sehr viel wichtiger sind. Aber wir wissen nicht, wie das weitergeht. Wir haben auch Schulleiter befragt. Die sollten sagen, welcher Anteil der Kinder ihrer Schule von der Grundschule auf das Gymnasium wechselt. Dabei haben wir keinen Unterschied gefunden: In stark mit Fluglärm belasteten Schulen wechselt der gleiche Anteil von Kindern ans Gymnasium wie in weniger belasteten.

 

Sie haben ja auch Lehrer befragt …

Ja, die Ergebnisse der Lehrerbefragung fand ich in ihrer Eindeutigkeit auch überraschend. Man könnte denken: Na gut, dann machen sie halt die Fenster im Klassenzimmer zu, so schlimm wird es schon nicht sein. Aber offensichtlich schränkt der Fluglärm die pädagogischen Möglichkeiten der Lehrkräfte doch sehr stark ein. Es ist bekannt, dass Unterbrechungen des Unterrichtsflusses für Kinder in diesem Alter ganz ungünstig sind. Kinder kommen raus aus ihren Gedankengängen und müssen sich nach einer Unterbrechung erstmal wieder hineinfinden. Das fällt ihnen in diesem Alter sehr schwer. Bisher hat man sich in der Forschung sehr auf die Leseleistung fokussiert. Aber diese häufigen Unterbrechungen können sich natürlich auch auf andere Fächer ungünstig auswirken.

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